Ein Essay von Prof. Dr. Rüdiger Sterzenbach
Die Bundesregierung – vertreten in der Person des Bundesverkehrsministers – ist für das unternehmerische Handeln der Deutschen Bahn AG verantwortlich (so das Bundesverfassungsgericht). Es ist dabei festzustellen, dass die DB AG trotz einer erheblichen staatlichen Mittelbereitstellung bislang den von ihr geforderten Beitrag zur Verkehrswende allenfalls ansatzweise geleistet hat. Politisch verantwortlich für die ausbleibenden Erfolge waren seit 2005 die Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD), Peter Ramsauer (CSU), Alexander Dobrindt (CSU), (kurz kommissarisch) Christian Schmidt (CSU), Andreas Scheuer (CSU) und Volker Wissing (FDP); nun ist es Patrick Schnieder (CDU), der die lange Reihe bisher meist christlich-demokratischer Politiker in diesem Amt fortsetzt. Die DB AG hat bisher ihre Zielsetzung der Verkehrsverlagerung auf die umweltfreundliche Bahn – „Strategie Starke Schiene“ – weitestgehend verfehlt. Im Kontext einer langen Geschichte von leeren Versprechen und unrealistischen Ankündigungen der für die Bahn politisch und unternehmerisch Verantwortlichen (aktuell z. B. ein bundesweiter Taktfahrplan mit pünktlichen Anschlüssen und mehr Zügen bis 2030) muss bereits auch heute die Vereinbarung im Koalitionsvertrag der Vorgängerregierung gesehen werden, dass sich die Fahrgastzahlen im Schienenverkehr bis 2030 auf ungefähr 2,8 Milliarden Fahrgäste nahezu verdoppeln sollen (2021: 1,4 Milliarden Fahrgäste).
Die DB AG ist hoch verschuldet und „befindet sich in der größten Krise seit der Bahnreform“, so der Vorstandschef Richard Lutz. Sie ist seit langem – sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in der Statistik – in der Qualität der angebotenen Produkte und in der Netzverfügbarkeit mangelhaft. Sie ist in hohem Maße unpünktlich – im Fernverkehr historisch tief mit knapp über 60 Prozent – und leidet vielfach insbesondere an mangelnder Zuverlässigkeit. „Die Deutsche Bahn bietet einen der unzuverlässigsten Dienste in Europa an“ (Financial Times). „Der Produktivitätsabfall ist teilweise eklatant“ (Wirtschaftswoche). Ultimative Vorgaben der Politik an den Bahnvorstand, z.B. zur effizienten Mittelverwendung, und der angedachte Wechsel in der Führungsspitze zur Lösung der vielfältigen Probleme verkennen die zu lösende Grundproblematik der mangelnden Organisation und Wettbewerbsfähigkeit des Staatskonzerns. Verkehrsminister Schnieder ist mit der Performance der Bahn unzufrieden. Nach Auffassung des Ministers sei der Zustand der Bahn „auch ein Symbol für eine gewisse Stimmung im Land“. „Die Menschen haben den Eindruck, dass eben nicht mehr alles so funktioniert, wie es funktionieren soll“. Es bedarf daher durch den neuen Bundesverkehrsminister zuvorderst einer eigenen schonungslosen Bestandsaufnahme und in der Folge ein „grundlegendes Handeln“ (Schnieder). Es stellt sich jedoch die Frage, kann der Bundesminister das? Hat er den uneingeschränkten Willen zur Trendumkehr?
Bei der Mittelverwendung wurden falsche Prioritäten gesetzt. Über mehrere Jahrzehnte hinweg wurde viel zu wenig in den Erhalt und die Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur investiert. Es wurden u.a. Zusatzeinnahmen des Staates, insbesondere aus Nutzerentgelten, vielfach nicht zur Erhöhung der Investitionen eingesetzt. Stattdessen hat der Staat die zusätzlichen finanziellen Spielräume für eine Erhöhung seiner konsumtiven Ausgaben genutzt, ein Beispiel ist die massive Tarifsubvention im Rahmen des Deutschlandtickets. Wichtig für die Zukunft wird es u.a. sein, den Anteil der echten Nutzerfinanzierung im Verkehr dauerhaft zu erhöhen und institutionell fest abgesichert für Unterhaltung und Erhalt der Infrastruktur zu verwenden. Zudem: Die 500 Milliarden Euro des Investitionspakets werden zweckentfremdet verschleudert, „wenn die Mittel für schon eingeplante Projekte eingesetzt oder wenn bisheriger Konsum als Investition deklariert wird“ – diese Gefahr besteht weiterhin.
Jüngst bemängelte der Bund der Steuerzahler in grundlegenden Analysen zum Investitionspaket, dass der vorgebliche Modernisierungsschub „in Wahrheit eine Schuldenoffensive auf Vorrat – ohne ausreichende Reformen und ohne verbindlichen Tilgungsplan“ sei. Es fehle nicht am Geld, „sondern am politischen Willen zur Priorisierung“. Der Einsatz der Mittel bleibe intransparent, „die Effektivität zweifelhaft, die langfristige Strategie unklar.“ „Schulden machen ist einfach, generationengerechte Politik ist schwieriger“. Es bedürfe „verbindliche[r] Sparmaßnahmen und Tilgungspläne, Mut zu echten Strukturreformen – bei Verwaltung, Planungsrecht und Förderlandschaft. Eine ziel- und wirkungsorientierte Investitionspolitik, die den Mehrwert jeder Maßnahme von Anfang an klar definiert und später überprüfbar macht“.
Doch dafür braucht es grundlegend eine andere Art insbesondere politischer und unternehmerischer Führung, fernab des Führungsstils der vergangenen zwei Jahrzehnte, als man auch im Verkehr glaubte, dass Konflikte behoben und eine gescheiterte Verkehrspolitik mit – an den falschen Brennpunkten – scheinbar unbegrenzten Mitteln zugeschüttet werden könnten. Es müsste eigentlich nach zwei Jahrzehnten allen klar geworden sein, dass sich die Verkehrswende und auch die Beendigung der „Dauerkrise Bahn“ eben nicht herbeifinanzieren lassen. „Wer das süße Gift der Schulden verteilt, ohne es zu binden, wird sich irgendwann fragen lassen müssen: Wo ist das Geld geblieben – und warum hat es nichts verändert?“ (Roland Koch) Wir haben – wie vielfach im Verkehr – auch in der DB AG nicht ein Einnahmen-, sondern ein Ausgabenproblem. Es bedarf einer gründlichen Durchforstung aller Ausgaben im Verkehrsbereich, um die finanziellen Freiräume für die Bewältigung der Zukunft und damit der Verkehrswende und der Sanierung der DB AG zu schaffen.
Ein zukunftsfähiges Mobilitätssystem und dabei eine für die Zukunft gerüstete Deutsche Bahn erfordern entschlossenes Handeln und ein radikales Umdenken – jetzt ist die Zeit (Deutschland stehe vor „historischen Grundsatzentscheidungen“, so der Bundeskanzler). An den Verkehrsminister bleibt dabei die Forderung, ehrlich mit den Zahlen umzugehen und von Anfang an transparent zu kommunizieren. Die Zahlentricksereien beim Deutschland-Ticket haben tiefe Spuren in der Verkehrswirtschaft hinterlassen. Die Misswirtschaft im Verkehr zeigt zunehmend ihre negativen Wirkungen. Verkehrsleistungen werden nicht nur gelegentlich gekürzt, weil dafür das Geld nicht mehr vorhanden ist, was aber nicht an der insgesamt zu geringen Finanzausstattung, sondern an der Fehlallokation bzw. Verschleuderung der Mittel liegt.
Wie geht es weiter? Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag klare Ziele für die Weiterentwicklung der DB AG und damit für eine neue Bahnpolitik gesetzt. Ausgangspunkt für die Strukturüberlegungen bilden insbesondere die folgenden Sätze im Koalitionsvertrag (KoaV):
„Wir werden die DB InfraGO vom DB-Konzern weiter entflechten, innerhalb des integrierten Konzerns. Hierzu sind sowohl personelle, rechtliche als auch organisatorische Maßnahmen zu ergreifen. Sowohl beim DB-Konzern als auch bei der DB InfraGO soll eine Neuaufstellung erfolgen mit dem Ziel, mehr Fachkompetenz abzubilden und eine Verschlankung zu erreichen.“
und
„Der Fortbestand des Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag (BEAV) zwischen DB AG und DB InfraGO wird geprüft“.
Auch vor dem Hintergrund, dass Bundesminister Schnieder – z. B. mit Verweis auf einen Wettbewerber – im Schienenverkehr viel Potenzial sieht, ist damit der Rahmen für ein strukturiertes Handeln vorgegeben:
Das organisatorische Beziehungsgerüst zwischen DB AG und DB InfraGO ist grundsätzlich zugunsten der DB InfraGO und zulasten der DB AG zu entflechten. Dies sollte nach Auffassung vieler Fachleute allerdings in Konsequenz zu einer vollständigen gemeinwohlorientierten Verselbständigung der DB InfraGO außerhalb der DB-Konzerns führen. Die strikte Trennung von Netz und Betrieb ist eine zentrale Maßnahme, die mittel- bis langfristig zu einer effizienteren und transparenteren Organisation des Schienenverkehrs beitragen kann.
Bereits zuvor wird die DB InfraGO selbständiger innerhalb des „integrierten Konzerns“ agieren müssen. Sichtbar werden muss dies auch an der Neuverteilung von Zuständigkeiten im Konzern. Zukünftig muss die DB InfraGO über eigene Ressourcen verfügen, um ihr Kerngeschäft wahrnehmen zu können. Dazu gehört vordringlich die eigenständige Wahrnehmung der üblichen betrieblichen Funktionen, bis hin zur Interessenvertretung gegenüber Bund, Ländern, Branche und Stakeholdern und eine eigene Rechts- sowie Kommunikationsabteilung, die von Konzerninteressen unabhängig ist. Entsprechende Funktionen sind zukünftig nicht mehr durch die DB-Holding zu erbringen. Damit wird die DB InfraGO entflochten und „selbständiger“ im Sinne des KoaV.
Die DB-Holding hat ihre zukünftige Steuerungsfunktion insbesondere auf die Transportgesellschaften DB Fernverkehr, DB Regio und DB Cargo sowie die damit verbundenen Gesellschaften (z.B. DB Fahrzeuginstandhaltung oder DB Vertrieb) zu begrenzen – auch unabhängig von der grundsätzlichen Frage, ob nicht einige dieser Aktivitäten zu privatisieren wären.
Die Steuerung der DB InfraGO muss zukünftig grundlegend über den Aufsichtsrat der DB InfraGO erfolgen. Zudem muss der InfraPlan, der als gesetzliches Steuerungsinstrument des Bundes zu entwickeln ist, die inhaltliche Umsetzung des Modernisierungsprogramms überwachen. Durch ein geeignetes Kennzahlensystem, das im InfraPlan anzulegen ist, muss unabdingbar sichergestellt werden, dass der Einsatz der Mittel aus dem Sondervermögen der Modernisierung der Infrastruktur dient.
Der Aufsichtsrat der DB InfraGO ist neu zu besetzen. Diese Personalentscheidungen sind für den Erfolg der Umsetzung der Koalitionsvereinbarung von herausragender Bedeutung. Dazu gehört insbesondere die Frage, ob der zukünftige Vorsitzende des Aufsichtsrats aus dem Konzernvorstand besetzt wird oder mit einer externen Person. Letzteres ist eindeutig zu bevorzugen. Zugleich sollten mindestens ein bis zwei externe Sachverständige in das Kontrollgremium entsandt werden, die über Erfahrungen im Bereich der Schieneninfrastruktur, aber auch im Wettbewerb verfügen. Die Prüfung des Fortbestandes des „Beherrschung- und Gewinnabführungsvertrags“ (BEAV) muss im Einklang mit der organisatorischen Entflechtung angegangen werden. Nur so kann der Minister sicherstellen, dass die Prüfung über den Fortbestand des BEAV insbesondere mit der gebotenen Neutralität erfolgt und nachdem der Minister dafür die aus seiner Sicht richtigen Strukturen und Personen etabliert hat.
In einem dpa-Interview führte Schnieder aus, dass er bis zum Spätsommer sein Konzept zur Strategie und Struktur der DB AG „verabschieden“ möchte. Damit sollen die wesentlichen Eckpunkte aus dem ersten Satz im neuen KoaV abgearbeitet werden. Letztendlich wird der Minister aber nicht an dem Konzept gemessen, sondern daran, dass das Konzept zügig umgesetzt wird und Erfolge im Eisenbahnbereich erkennbar werden. Dazu gehört neben einer verbesserten Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit auch eine intakte Infrastruktur, eine deutliche Verschlankung von Verwaltungsstrukturen mit größerer Fachkompetenz, ein erfolgreicher wirtschaftlicher Turn-around in den Kerngeschäften (Fernverkehr, Regio und Cargo) und bei der DB InfraGO der erfolgreiche Einsatz der deutlich gestiegenen öffentlichen Mittel aus dem zukünftigen Sondervermögen. Voraussetzung ist, dass das Konzept des Ministeriums „umsetzungsreif“ ist und es nicht an den zu erwartenden Umsetzungswiderständen insbesondere der Besitzstandswahrer, Subventionsjunkies und der großen Schar von Lobbyisten innerhalb und außerhalb des DB-Konzerns scheitert. Die derzeitige Praxis, in der politische Akteure unmittelbar auch in die DB AG operativ eingreifen, behindert oft die Zielerreichung und hemmt innovative Ansätze. Es fehlt vielfach nicht am Wissen, sondern am Willen zur Durchsetzung der richtigen Schritte zur Beendigung der Krise DB AG.
Lediglich „einen Trainer austauschen“, hält Schnieder für verkürzt. Erst nach der Abklärung inhaltlicher und struktureller Fragen will sich Schnieder daher folgerichtig mit Personalfragen beschäftigen. Es bedarf außerhalb und innerhalb des DB-Konzerns unabdingbar auch Personen, die inhaltlich und von ihrem Standing für das neue Konzept des Ministers stehen müssen. Die Besetzung von Führungspositionen sollte ausschließlich anhand von Leistung, Eignung und Qualifikation und insbesondere nicht nach einer politischen Farbenlehre erfolgen. Es dürfte kein Geheimnis sein, dass innerhalb der DB die Anzahl der Personen, die bereit für „frischen Wind“ und eine Wettbewerbsertüchtigung sowie neue Ideen stehen, begrenzt ist. Diese Personen haben gegenüber dem Minister absolut vertrauenswürdig und insbesondere loyal zu sein. Vor allem sollten diese Personen die kritischen „Umsetzungswiderstände“ identifizieren können, Lösungsansätze aufzeigen und Lösungen konsequent umsetzen. Die Personen sollten darüber hinaus ein hohes Maß an politischer Sensibilität – auch durch eine gelebte und wettbewerbsaffine Praxis – mitbringen. Die Erfahrung lehrt, dass es bei einer strategischen Neuausrichtung sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik in der Regel geraten ist, sich von den für die Vergangenheit verantwortlichen Führungskräften – ohne die öffentliche Fragestellung eines möglichen Verschuldens – zu trennen. Der Minister sollte sich dabei nicht vorwerfen lassen, dass ihm „der Mut zum großen Rauswurf fehlt“. Er sollte sich jedoch vor öffentlichkeitswirksamen PR-Terminen hüten, die ihm der Bahnchef in „bewährter Methode“ in seinem Wahlkreis in der Eifel „beschert“.
Ganz grundsätzlich ist festzuhalten, dass der aktuelle Zustand sowohl der Infrastruktur als auch bei DB Fernverkehr (und letztlich auch DB Cargo) vor allem ein Ergebnis mangelnder Steuerung und Zielsetzung durch den Eigentümer ist. Die DB hat es sich komfortabel eingerichtet, indem sie einerseits möglichst viel Geld vom Bund fordert (und auch in den vergangenen beiden Legislaturperioden bereits historisch hohe Beträge erhalten hat, die aber nicht effektiv eingesetzt wurden), andererseits sich jedoch nicht „reinreden“ lassen möchte.
Es ist im bestehenden System eindeutig zu fordern, dass der Bund bei der Infrastruktur mittels Infraplan und dazu passendem Finanzierungsinstrumentarium klare Vorgaben an die InfraGO machen muss. Dazu braucht es beim Bund eine durchsetzungsfähige Einheit für die Steuerung der Infrastrukturthemen inklusive Bündelung der Wünsche aus den Ländern und eine klare Governance, wie diese Anforderungen priorisiert und zielgerichtet in die InfraGO eingebracht werden. Mit einer personellen Neuaufstellung müssen zugleich tiefgreifende Strukturreformen auch im Zusammenspiel zwischen Politik, Ministerium und DB AG einhergehen, wenn die langandauernde Misere tatsächlich und nachhaltig überwunden werden soll.
Zum Autor:
Rüdiger Sterzenbach (geboren 1946) studierte Volkswirtschaftslehre in Marburg. Er war von 1977 bis 2012 Professor für Volkswirtschaftslehre und zudem Volks- und Betriebswirtschaftslehre des Personenverkehres an der Hochschule Heilbronn sowie parallel bis 2006 Mitgesellschafter der SZ-Verkehrsbetriebe. Im Ehrenamt war Sterzenbach zudem Vorsitzender der Ständigen Konferenz der Landessportbünde und Präsident des Landessportbundes in Rheinland-Pfalz sowie wirtschaftspolitischer Sprecher der CDU Rheinland-Pfalz.
Seine jahrzehntelange Erfahrung und Expertise bringt er bis heute in politische und ökonomische Veröffentlichungen zur gesamten Mobilität ein – Sterzenbach wird gelegentlich auch als „ÖPNV-Papst“ und „Luftverkehrs-Papst“ zitiert. Er hat gemeinsam mit Professor Frank Fichert soeben das Buch „Verkehrspolitik und Verkehrswende“ veröffentlicht. Weitere Beiträge von Rüdiger Sterzenbach sind auf seiner Website https://ruediger-sterzenbach.de zu finden.
Kommentare und Meinungsbeiträge werden als Debattenbeitrag in der Diskussion um die Neuordnung der Strukturen im deutschen Verkehrswesen veröffentlicht. Namensbeiträge geben nicht die Meinung der Redaktion wieder.