Rente mit 68? Wir brauchen in der Sozialpolitik keine weitere Flickschusterei, sondern mehr sozialen Ausgleich und Aufstieg, Subsidiarität und Selbstverantwortung.

Eine Marktwirtschaft kann nur dann zum Wohlstand aller Menschen best­möglich beitragen, wenn sie in einen starken Sozialstaat mit stabilen freiheit­lichen Institutionen eingebettet ist. Doch was heißt das gerade jetzt – in der aktuellen Rentendiskussion.

Die Soziale Marktwirtschaft basiert auf der grundlegenden Idee, „das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden“ (Müller-Armack). Nur wirtschaftlich gute Leistungen auf Basis einer Leistungs­ge­rechtigkeit sind die Grundlage für eine Sicherung des sozialen Fortschritts und schaffen damit die Möglichkeiten zum sozialen Ausgleich (Ausgleichs­ge­rech­tig­keit). Nur was vorher an anderer Stelle erwirtschaftet und an Wert geschöpft wur­de, kann auch in der Sozialpolitik umverteilt werden. Was in der über­wie­gen­den Zahl der privaten Haushalte als eher selbstverständlich angesehen wird – man kann eben nicht mehr ausgeben als eingenommen wird – gerät in der Poli­tik insbesondere in Wahljahren relativ schnell in Vergessenheit. Es kann schon län­ger nicht mehr ausgeblendet werden, dass wir ein System der sozial­po­li­ti­schen Umverteilung geschaffen haben, das mittlerweile in hohem Maße in­trans­pa­rent und teuer ist und zudem insbesondere an einer abnehmenden Ziel­genau­ig­keit leidet. Die Zielgenauigkeit und die Subsidiarität als Grundlage einer guten Sozialpolitik sind aus dem Blickwinkel geraten. Es ist nicht mehr überblickbar wer wie viel an wen bezahlt und wieviel Geld z. B. im „System“ verbleibt; ein Überblick über die Nettoverteilungswirkung des Systems ist nur noch schwer­lich leistbar. Ständig neue Leistungen und Einzelfallbestimmungen – nicht sel­ten ausgerichtet nach Partikular- oder Parteiinteressen – schaffen oft das Gegen­teil einer größeren Gerechtigkeit und erinnern an eine „Flick­schusterei“. Es gilt eher das „Gießkannenprinzip“, das eine zielgenaue Hilfe für Menschen die be­dürf­tig sind, erschwert, wenn nicht sogar unmöglich macht. Das Sozialbudget un­seres Staates unterlag und unterliegt einer dynamischen Entwicklung und be­trägt mittlerweile fast 30 Prozent seiner Wirtschaftsleistung, das heißt, dass nahe­zu 30 Cent von einem produzierten Euro in einem kaum transparenten Sys­tem sozialer Sicherung umverteilt werden. Absolut haben sich die deutschen So­zial­ausgaben (Bund, Länder, Gemeinden) dem Wert von einer Billion Euro ge­nähert, die Ausgaben des Bundes machen mit steigender Tendenz im Bereich der sozialen Sicherung 51% des Gesamthaushaltes aus. Das Ressort Arbeit und So­ziales mit 150,2 Mrd. € beansprucht 41% des Gesamt­haushaltes, der Bun­des­zu­schuss in das Rentensystem liegt knapp über der 100 Milliarden Euro Grenze und bindet damit ca. 30 Prozent des Bundeshaushaltes. Trotz dieser großen Um­ver­teilung haben viele Bürger allerdings zunehmend das ungute Gefühl, nicht zu den Begünstigten der Sozialtransfers zu gehören.

Wird unser Sozialsystem nicht grundlegend mit der besonderen Blickrichtung auf Solidarität. Subsidiarität und Selbstverantwortung reformiert, ist die Sorge nicht von der Hand zu weisen, dass unser Sozialsystem an die Grenze des Leist­ba­ren stößt, Steuern und Abgaben in nicht mehr zu schulternde Größenord­nun­gen steigen, ein Zusammenbruch des Systems ist nicht auszuschließen. Es gilt da­her für zukünftiges Handeln einmal mehr auch in der Sozialpolitik zu betonen, dass nur in dem Ausmaß wie auf der Basis des Wettbewerbs, Ein­kommen und Wohl­stand erzeugt werden („Prinzip der Freiheit auf dem Markt“), die Politik eine sozialpolitisch motivierte Umverteilung („des sozialen Aus­gleichs“) vor­neh­men kann. Es gilt sich dem zunehmenden Eindruck entgegenzu­stellen, dass nur der sozial ist, der verteilt. Nicht minder sozial ist auch der­je­ni­ge, der mit sei­nem Handeln erst die Grundlage dafür schafft, dass etwas zum Verteilen vor­han­den ist.

Die bestehende Sozialordnung (z. B. gesetzliche Krankenversicherung) schafft An­reize und erleichtert es, dass die Versichertengemeinschaft insgesamt durch den einzelnen Versicherten ausgenutzt wird und er sich durch Entnahmen schad­los hält, will er doch so viel wie möglich aus dem System für sich herausholen. Die kollektivistische Absicherung hat dabei vielfältig die Vorsorge in Eigen­ver­ant­wortung in den Hintergrund treten lassen. Es hieße dabei die Realität aus­zu­blenden und nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass die Menschen im Sozialstaat mit der gleichen Zielstrebigkeit – wie in der Wirtschaft insgesamt – ihre persön­li­chen Ziele verwirklichen wollen. Man spricht in diesem Zusam­menhang schon länger von der „allokativen Ineffizienz“ und der „Ausbeutung der Versicher­ten­ge­meinschaft durch die Versicherten“ (Wilfried Schreiber). Die „individuelle Ra­tio­nalität“ führt zur „kollektiven Irrationalität“.

Die vorstehenden Erkenntnisse dürfen nicht darüber hinwegtäuschen und ver­drän­gen lassen, dass ein sogenanntes Niedriglohnprekariat in Höhe von ca. zehn Prozent aller Erwerbstätigen entstanden ist – ein Niedriglohnsektor, obwohl die Men­schen in Vollzeit arbeiten. Trotz „Fördern und Fordern“ ver­bleiben viele Men­schen dauerhaft in der Niedriglohnfalle. Geringverdienern bietet die Ren­ten­versicherung immer weniger Sicherheit. Die vor diesem Hintergrund ent­ste­hen­den und entstandenen Biographien sind auch bei Langzeitarbeitslosen anzu­tref­fen und verhindern insgesamt ein würdiges Leben im Alter. Mit Besorgnis ist je­doch festzustellen, dass die Behebung der vorstehend geschilderten Probleme und dabei die Schaffung einer chancen-, leistungs- und sozial gerechten Ge­sell­schaft, zunehmend von bestimmter politischer Seite durch eine nivellierende gleichmacherische Gesellschaft, ohne den Anreiz zur Anstrengung, ersetzt wur­de und weiterhin ersetzt werden soll.

Ein besonderes Beispiel dieser negativen Entwicklung in der Einschränkung un­ter­nehmerischer und persönlichen Entscheidungen und das Erschaffen und Draufsetzen nicht zielgenauer Wohltaten war und ist der Entwurf der SPD „Neu­er Sozialstaat für eine neue Zeit“, das Konzept für einen „Sozialstaat 2025“. Den Verfassern ist insbesondere die Wertvorstellung verloren gegangen, dass das Äquivalenzprinzip, d. h. die Abhängigkeit der Rentenhöhe von der Höhe der Einzahlungen – die Rente soll Lohn für Leistung sein –, auch Freiheit und Unabhängigkeit schafft und vor staatlicher Abhängigkeit schützt. „Fördern und Fordern“ als wesentliche Bestandteile einer erfolgreichen und guten Sozial­po­litik werden nahezu komplett in die Nähe von „sinnwidrigen und unwürdigen Sank­tionen“ gerückt, die Versicherungssystematik außer Kraft gesetzt. Sollten sich solche Vorstellungen durchsetzen, ist ein Ansteigen und Verstetigen der Ar­beits­losigkeit zu befürchten. Arbeitslose benötigen nicht in erster Linie wenig ziel­gerichtete Zahlungen, die möglicherweise eine Sicherheit vorspiegeln, die dau­erhaft nicht gegeben ist. Arbeitslose brauchen schnellstmöglich Arbeit und ein auskömmliches Einkommen, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Nach Umfragen vertritt auch heute immer noch die überwiegende Zahl unserer Bür­ger die Auffassung, dass derjenige der viel leistet, auch mehr verdienen und spä­ter mehr Rente erhalten soll. Es darf aber auch nicht geleugnet werden, dass die Zusage, dass Leistung sich auch im Alter auszahlt, immer weniger belastbar wird. Die Deutschen haben Zweifel an der Sicherheit und der Zukunftsfähigkeit ihrer Rente. Nach einer jüngeren Umfrage gehen über 50 Prozent der Befragten davon aus, dass das gesetzliche Rentensystem über kurz oder lang vor dem Zu­sam­menbruch steht. Über 70 Prozent gehen nach dieser Umfrage davon aus, dass die gesetzliche Rente in Zukunft lediglich eine Grundsicherung ist. Gering­ver­dienern bietet dabei die Rentenversicherung bereits heute immer weniger Sicherheit. Das Versprechen eines ehemaligen Ministers „Die Rente ist sicher“ ist zu einer leeren Worthülse verkommen, ist unsere Rente doch schon lange nicht mehr sicher. Dies umso mehr, als bis 2030 ein Anstieg der Zahl der Rent­ner auf 20 Millionen erwartet wird, die Babyboomer gehen zunehmend in Rente. Es ist daher nicht verwunderlich, dass im Bewusstsein der Deutschen der Wunsch nach nachhaltigen Reformen in der Rentenpolitik gestiegen ist.

Es ist jedoch bereits gedanklich, besonders vor dem Hintergrund einer ange­streb­ten sozialen Gerechtigkeit, im System unserer Sozialen Markt­wirt­schaft schwer begründbar, dass eine nicht durch Beitragseinnahmen gedeckte Grund­rente – der zuständige Minister spricht in diesem Zusammenhang von einem „so­zial­politischen Meilenstein“ – im Sinne einer Grundsicherung ohne Be­dürf­nis­prüfung auch begüterten Menschen zugutekommen soll. Diese sogenannte Re­spektrente, unter anderem ursprünglich mit der Bedingung einer mindestens 35-jährigen Beitragszahlung, stellt lediglich die Betroffenen ökonomisch ruhig, be­günstigt ohne Bedürftigkeitsprüfung bereits besser Gestellte (indem sie z. B. Ka­pitaleinkünfte nicht hinreichend berücksichtigt) und erfüllt nicht die Grund­an­forderungen, nämlich den Schutz vor Armut und die Chancen zur Führung ei­nes der Würde des Menschen entsprechenden Lebens. Mittlerweile ist zum ei­nen erfreulicherweise ein Aufweichen der ursprünglich fundamentalen Positio­nen insbesondere hinsichtlich einer besseren Überprüfung der tatsächlichen wirt­schaft­lichen Situation erkennbar. Die starre Frist für den Bezug der Rente soll durch einen Übergangsbereich – insbesondere für Men­schen in Pflegeberufen und der Kindererziehung – erweitert werden. Nachteilig muss jedoch die Ab­sicht angesehen werden, die Grundrente vollständig aus Steuermitteln zu fi­nan­zie­ren. Strikt abzulehnen ist jedoch weiterhin die Absicht, das Vermögen und das Einkommen bei der Berechnung der Grundrente nicht vollumfänglich zu er­fas­sen und in der Berechnung der Höhe der Rentenzahlung zu berücksichtigen.

Eine ursprünglich angedachte Mitfinanzierung der Grundrente durch eine im eu­ro­päischen Kontext gesicherte Finanztransaktionssteuer (Bedingung der CDU durch Parteitagsbeschluss) – ob sie nun irgendwann jemals kommt oder nicht –, die in der vorliegend angedachten Form im Besonderen diejenigen zur Kasse bit­tet, die in der Zeit niedriger Zinsen in ihrer Altersvorsorge auf Aktien setzen, per­vertiert eher den politischen Grundgedanken der Steuer und schadet der „Ak­tien­kultur“; es tragen insbesondere z. B. Kleinaktionäre und Fondsanleger zur Fi­nanzierung der Grundrente bei, während hingegen z. B. Spekulanten, große In­vestoren, Daytrader und Hedgefonds verschont bleiben. „Diese Steuer ist ein Bei­spiel für eine Politik, die vorgibt, Probleme [schädliche Spekula­tionen] zu lö­sen, sie aber tatsächlich eher verschärft“ (Clemens Fuest).

Lediglich 22 Prozent der Befragten in der oben zitierten Umfrage sehen die Grund­rente als Lösung des Problems der Altersvorsorge an. Es wird und wurde aus­geblendet, dass der demographische Wandel stärkere Anpassungen in der Le­bens­arbeitszeit notwendig gemacht hätte. Stattdessen soll die Rentenpolitik nun­mehr auch zur Korrektur der Lohnpolitik herangezogen werden. Die Alters­vor­sor­ge wird zu einem Streitgegenstand mit auch wahltaktischem Hintergrund. Die Ge­schenke von heute begründen den notwendigen zukünftigen Korrek­tur­bedarf. Nur eine Rentenaufstockung mit Bedürftigkeitsprüfung kann im Besonderen vor dem Hintergrund der sozialen Gerechtigkeit dauerhaft den Charakter der So­zia­len Marktwirtschaft tragen.

Die staatliche Altersvorsorge ist in der vorliegenden Ausgestaltung – insbe­son­de­­re unter dem Gesichtspunkt des vorstehend angeführten unausweichlichen de­mo­­graphischen Wandels – nicht zukunftsfest. Neben einer von zahlreichen Ex­per­ten und sogar der Bundesbank vorgeschlagenen grundsätzlichen Ver­län­ge­rung der Lebensarbeitszeit – im Verhältnis zur erhöhten Lebenserwartung –, soll­ten größere Möglichkeiten der höchst individuellen Entscheidung über den Ren­teneintritt geschaffen werden. Dies mit der Erkenntnis, dass ein flexibler Ein­tritt in den Ruhestand nicht nur einer möglichen Kontaktarmut im Alter vor­beugt, sondern auch denjenigen Rentnern und Pensionären die Möglichkeit gibt, weiterhin ihr Können in die Gesellschaft einzubringen, die dies möchten. Mög­lich wird dies insbesondere nur dann sein, wenn dafür Sorge getragen wird, dass ins­gesamt die körperlichen und psychischen Arbeitsbedingungen verbessert wer­den. Einem in der Diskussion der Verlängerung der Lebensarbeitszeit alar­mistischen Reflex der Ablehnung ist entschieden argumentativ entgegenzu­tre­ten.

Die private und betriebliche Altersvorsorge ist auszubauen. Die Agenda 2010 hat mit dazu beigetragen, die Massenarbeitslosigkeit zu beseitigen, wobei der oben angesprochene Niedriglohnsektor eine Rolle gespielt hat. Sie ist daher ent­spre­chend den Anforderungen der heutigen Zeit weiter zu entwickeln. Grund­sätz­lich sollte die Politik dabei den Mut zu neuen Wegen haben und z. B. den in der Diskussion befindlichen Vorschlag zu einem „Bürgerfonds“ aufgrei­fen. Wie die Autoren vorschlagen, ist die hohe Bonität Deutschlands zu nutzen um nicht nur Vermögenssteigerungen, sondern insbesondere erhebliche Verbes­serun­gen in der Altersversorgung – mit einer Stabilisierung der Renten zukünfti­ger Ge­ne­ra­tionen durch Kapitalleistungen – zu verwirklichen. Dabei ist beson­ders wich­tig und hervorzuheben, dass die Verschuldungsregeln mit den vorge­gebenen Gren­zen nicht verletzt werden. Die Differenz in der Rendite zwischen der Auf­nah­me von Geld auf dem Kapitalmarkt und der Anlage des Geldes mit den grö­ße­ren Renditen auf dem Aktienmarkt schafft dem Staat die Möglichkeit, für die Bür­ger nachhaltig Vermögen aufzubauen.

Eine stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen, und eine neue Aktienkultur, dürfen zudem nicht nur Forderungen in Papieren und Koa­li­tions­verträgen bleiben. Sie sind ein unabdingbarer Weg, die Arbeitnehmer ver­stärkt an der Neuvermögensbildung zu beteiligen und damit ein Auseinander­drif­ten der Vermögen in der Gesellschaft zu erschweren, wenn nicht sogar zu ver­hindern. Wichtig ist jedoch dabei festzuhalten, dass ein – von den Bürgern even­tuell durch von ihnen vorgenommene Einzahlungen gespeister – Staats­fonds nicht dazu führen darf, die Macht anonymer Verwaltungen zu erhöhen. Es be­darf in diesem Fall eines privaten Managements mit üblichen befristeten Ver­trägen. Eine regelmäßige Ausschreibung der Managementaufgaben sollte an­ge­strebt werden.

Unter dem Deckmantel einer Gerechtigkeitsdiskussion, immer neu herbei dis­ku­tier­ten Gerechtigkeitslücken und der vermehrten einseitigen Auslegung des Be­griffs Gerechtigkeit ausschließlich als Gleichheit, ist es unter anderem üblich ge­wor­den, höhere steuerliche Belastungen für „Besserverdienende“ zu fordern. Die­se Debatte lenkt den Blick von den ständig höheren steuerlichen Belastungen der unteren und mittleren Einkommensschichten ab. Nach einer Studie der Or­ga­nisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) lässt Deutschland – an zweiter Stelle aller Länder – den Berufstätigen am wenigsten im Verhältnis von Brutto- zu Nettolohn – hat also die zweithöchsten Abzüge. Das Armutsrisiko der „Durchschnittsfamilie“ hat ebenso wie die Gefahr des Ab­rut­schens des Einkommens unter das Existenzminimum erheblich zugenommen und ist im hohen Maße in den hohen Belastungen durch Steuern und Abgaben be­gründet. Neue Studien belegen eine zunehmende Auswan­de­rung des Mit­tel­stands. Wir brauchen eine Steuerreform, die den Namen verdient und nicht nur die Steuern senkt, sondern auch das Steuersystem radikal vereinfacht.

Allein die Mehrwertsteuer, deren Regelsatz in mehreren Stufen von ursprünglich 10 auf heute 19 Prozent erhöht wurde, belastete und belastet im besonderen Maße niedrigere Einkommen im Vergleich zu höheren Einkommen. Durch Ver­schie­bung der Einkommensgrenze ist es heute auch bei Facharbeitern nicht mehr aus­geschlossen, dass sie dem Spitzensteuersatz der Einkommensteuer unter­lie­gen. Fast jeder zehnte Steuerpflichtige – über 4,2 Millionen Bürger, mit stei­gen­der Tendenz – bezahlt in Deutschland den Spitzensteuersatz. Die dem Spit­zen­steu­er­satz unterliegenden Steuerzahler bezahlen bereits heute über die Hälfte der Ge­samtsumme des Aufkommens aus Lohn- und Einkommensteuer. Die Steu­er­quote, also der Anteil der Steuern am Bruttoinlandsprodukt, nimmt weiterhin zu. Der Staat beansprucht somit einen immer größeren Teil der Wirtschaftsleistung für sich. Diese grundsätzliche Aussage wird auch nicht durch den gelegentlich be­schwichtigend vorgebrachten Einwand infrage gestellt, dass der Spit­zen­steuer­satz nur auf den Teil des Einkommens gezahlt werden muss, der eine be­stimm­te Grenze überschreitet. Die Unzufriedenheit in den Haushalten der Mit­tel­schicht wächst, einhergehend mit einem zunehmenden Gefühl von Un­sicher­heit und Sorge. Populismus, Protektionismus und ein zunehmendes Misstrauen ge­gen Globalisierung und öffentliche Organe finden ihren Nährboden. Gerade aus der deutschen Geschichte lässt sich lernen, wie schnell und bedrohlich sich Ra­tionalität in Irrationalität umkehren kann. Aussagen von Spitzenpolitikern über die „klebrigen Finger des Staates“ fördern diese Entwicklung und ver­mit­teln eher den Eindruck eines Offenbarungseids im politischen Handeln.

Nicht der Aufstieg des Bürgers steht vielfältig im Vordergrund des politischen Be­mühens, sondern das staatliche Verwalten des Abstiegs. Gesellschaftliches Auf­steigen wird zunehmend durch Abstiegsängste ersetzt und von politischem Ak­tionismus begleitet. In der Sozialpolitik sind jedoch vordringlich die Be­schäf­ti­gungs- und Aufstiegsmöglichkeiten insbesondere von Frauen, Älteren und Mi­gran­ten zu verbessern. Wer gegen Ungleichheit grundlegend und nachhaltig an­gehen will, hat insbesondere die Entwicklungschancen sozial benachteiligter Kin­der zu verbessern und damit ihre Teilhabe am Wohlstand aber auch ihre Teil­habe als Staatsbürger zu sichern. Deutschland hat im Vergleich zu anderen In­dustrieländern eine niedrige soziale Mobilität. Der soziale Status des El­tern­hauses bestimmt auch im hohen Maße den Status der nachfolgenden Generation, von annähernd gleichen Startchancen kann auch bei einer freundlichen Be­trach­tung schon lange nicht mehr gesprochen werden; eher gilt die Tendenzaussage, dass in dem Land mit der Pro Kopf größten Wohlfahrtsleistung, Armut ver­erb­bar ist. Die Kernaussage weit über die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs in Deutsch­land hinaus, dass es Kinder besser haben als ihre Eltern, sofern sie sich an­strengen, gilt bestenfalls nur noch eingeschränkt. Diese große Erstarrung in un­serem Gemeinwesen gilt es zuvorderst zu überwinden.

Es gilt Prioritäten zu setzen und bereits in der frühkindlichen Bildung und im Grund­schulbereich alle zu einer Herstellung der gleichen Startchancen not­wen­di­gen Investitionen vorzunehmen – als Schlüssel zur Schaffung von Auf­stieg und zur Armutsbekämpfung und Förderung der Hilfe zur Selbsthilfe. Nur primär zu­kunftsorientierte bildungspolitische Investitionen – hierzu gehört z. B. auch die notwendige Beseitigung des kommunalen Investitionsrückstands in unseren Schulen – geben nachfolgenden Generationen die Chance, weiterhin Wohlstand zu schaffen und unter anderem die Lasten des Generationenvertrages zu stem­men. Allgemein formuliert lässt sich sagen, zuvorderst nur Bildung schafft die Chance auf ein besseres Leben. Es erscheint zudem notwendig, dass Kinder be­reits in der Schule den bewussten und nachhaltigen Umgang mit Geld lernen. Der notwendige Eintritt aller Bildungs- und Ausbildungsstätten in das digitale Zeit­alter und die unverzichtbare Vermittlung digitaler Kompetenzen – auch durch höhere Kompetenz- und Bildungsanforderungen – schaffen die Vor­aus­set­zun­gen, um in der zukünftigen digitalen Arbeitswelt sowohl in der Breite als auch mit spezialisiertem Wissen in der Spitze bestehen zu können. Eine per­so­nen­bezogene Begabtenförderung sollte dabei stärker angestrebt und einer wei­te­ren Nivellierung des Bildungssystems mit sinkenden Ansprüchen ent­gegen­ge­wirkt werden – Intellekt und Leistungsbereitschaft müssen angereizt werden. Es bleibt grundlegend festzuhalten: Ausbildung ist die beste und nach­hal­tigste In­ves­tition in die Zukunft. Nicht Kollektivierung sondern eine gute Aus­bildung ist eine wesentliche Grundlage zur Bildung von Vermögen und zur Glättung der Un­gleichheiten in der Vermögensbildung. Kernanliegen einer auf die Zukunft ge­richteten Politik müssen wieder die Schaffung und Wahrung von Bildung- und Aufstiegsversprechen sein.

Es wäre in diesem Zusammenhang auch wünschenswert, wenn Politiker einen le­benslangen Lernprozess für sich selbst als notwendig begreifen. Der zu le­sen­de Satz, dass das Land keinen Anspruch mehr an sich selbst hat (Reitzle), sollte in Zukunft – nicht zuletzt durch wieder steigende Bildungsausgaben – keine Be­grün­dung mehr haben.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Sozialstaat und seine Legitimation nur in einer grundlegenden und umfassenden Reform dauerhaft zu erhalten sein wird. Einer weiteren Subventionierung der Vergangenheit mit nachweisbar in Ein­zelbereichen fehlgeschlagenen Entwicklungen sollte dabei unwiderruflich ein Ende bereitet werden. Dabei sollte der Staat jährlich darstellen, welche Be­las­tungen und in welcher Größenordnung er zukünftigen Generationen auf­ge­bür­det hat und dabei den Kriterien der Solidarität und der Subsidiarität – damit der Hilfe zur Selbsthilfe – Rechnung getragen wird. Der Pflicht des Einzelnen zur Eigenvorsorge steht der Anspruch auf solidarische Hilfe durch die Ge­mein­schaft gegenüber“.

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